Mittwoch, 21. März 2012

Lipizzaner!



 
Ill: Henry Dell; Wordsworth's Illustrated Poetical Works, Ward, Lock / Co, Ldn - NY ohne Jahr/Aufl. 1884 oder früher
 

Als Kind blätterte ich durch einen Band der schon lange vergriffenen roten Reihe des Verlags Langewiesche; es ging um Lipizzaner. Schwarz-Weiss-Photographien von der Vollkommenheit der Pferde, die Kleidung der Dresseure und ihre Miene, die zurechtgeputzten Pferde, die Architektur, die gefrorenen Sprünge und Figuren.


Etwa zur gleichen Zeit war aber ein anderes Buch mein Lieblingsbuch (von Albert Lamorisse): "Der weiße Hengst"! Darin stob ein wildes Pferd durch die ungezähmte Landschaft des Rhone-Deltas in der Camargue. Später ließ es Falco aufsitzen, ohne Zügel und Sattel, und stürmte mit ihm in die weißschäumenden Uferwellen. - Die Lipizzaner faszinierten mich, aber ich träumte und schwärmte von "Weissmähne".
Bildquelle: m.cinebel.be

Beide Bücher sind lange schon vergriffen. Die Themen, Wildnis und Kultur, Natur und Dressur, tauchen aber in einem ganz neuen Buch wieder auf, das gerade im Verlag C. H. Beck (in deutscher Übersetzung von Gerd Busse und Gregor Seferens) erschienen ist: Frank Westerman, Das Schicksal der weißen Pferde (19,90 Euro).


Der Autor begibt sich, von seinen Jugenderlebnissen in Holland angeregt, auf eine Entdeckungsreise zur Geschichte der Lipizzanerpferde und der Hofreitschule in Wien. Was das Buch zu solch fesselnder Lektüre werden lässt sind die Exkursionen in Ideologien, Abenteuer von Flucht und Rettung und Wissenschaft. Da sein Buch so reich an Querverweisen und Bezügen ist - dabei ungemein lesbar - hebe ich nur einige Punkte hervor.

Mit dreizehn Jahren erklimmt Westerman zum ersten mal einen Pferderücken, den vom Lipizzaner Conversano Primula: "Die Perspektive hatte sich geweitet und vertieft. Ich war auf die Schultern gehoben worden wie ein Ringkämpfer nach dem Sieg. Niemand war größer als zwei Meter zehn, doch ich wußte mich einen Kopf größer als der längste Montenegriner oder Nubier. Ich fühlte mich erhaben. Es gab Fußvolk, und es gab Reiter" (S. 22)

Westermann reist bei seinen Recherchen nach Lipica, ins heutige Slowenien, nach Wien, natürlich, und zu anderen Orten, in denen es die Lipizzaner in Zeiten von Schlachten und Kriegen getrieben hatte. Überall trifft und spricht er Menschen, die entweder direkt in die Geschichte verwickelt waren oder aber mit Leidenschaft dem Geschick dieser Pferde auf der Spur sind.

Im Holländischen Original heisst das Buch "Dier, Bovendier": Tier, Übertier. Anfang Oktober 2008 erschien in der New York Review of Books die Besprechung eines Buches über Nikolai Vavilow ("Martyred by Monsters", von Daniel J. Kevles). Das Buch ist: "The Murder of Nikolai Vavilow: The Story of Stalin's Persecution of One of the Great Scientists of the Twentieth Century" von Peter Pringle.

Es ist gut, dass auch Frank Westerman an Vavilow (im Deutschen: Wawilow) erinnert. (S. 114 ff)  Er war unter Lenin gefeierter und maßgebender Biologe aus der Schule Johann (Gregorius) Mendels. Stalin bereitete ihm ein brutales Ende im Gulag, während Trofim Lysenko (Lyssenko) bis zu absurden Höhen aufstieg. Dessen Motto war: Abhärtung und Umschulung. Es ging ums "boven", ums "Über".  Im Kapitel "Animal Farm" führt Westerman aus, wie bei Pflanze, Tier und Mensch unter Stalin diese rücksichtslose Dressur Elend und Tod brachte. Ganz abgesehen von diesem Extrem geht es um die alte Streitfrage: nature or nurture: Wesen oder Anerziehung, oder wie immer man das umschreiben will. Die Lipizzaner stehen irgendwo dazwischen, sind eine "vollkommene" Gattung Pferd mit einem besonderen Chromosom, teils aber auch durch Kreuzung und durch Umwelteinflüsse dazu erzogen.

Lipica, das ist im Karst, hoch über Triest: "Ich sah unseren Exkursionsleiter mit seiner freien Hand gestikulieren, dass der Körperbau des Lipizzaners gewissermaßen durch den unablässigen Gebirgswind zurechtgeschliffen worden sei. Ein extremes Klima, eine spröde, karge Vegetation - es sei dem Bau und dem Charakter des Pferdes der Habsburger zugute gekommen." (S. 63)

Kunst und Militär vermischen sich auch. So schreibt Westerman über die Hollywood-Verfilmung von Operation Cowboy: "Miracle of the White Stallion". (Davon stammt das Einbandphoto). Der Autor achtet stets darauf, Mythos von Fakt zu unterscheiden. Es ist ein spannender und äußerst informativer Band entstanden, und Kartenwerk hilft die Odysseen der Pferde zu Zeiten Napoleons, der beiden Weltkriege und dem serbo-kroatischen Krieg nachzufolgen.  Auch ein Stammbaum der berühmtesten Lipizzaner ist mitgeliefert und ein Quellenverzeichnis, dass es eine Lust ist.
Bildquelle: C. H. Beck Verlag

Besonders gefällt mir der Schluß des Buches, wo es um Schuld und Verstrickung geht. Nicht umsonst zitiert Frank Westerman auch Jonathan Swift und seine Houyhnhnms; denn Pferd und Mensch leben schon zu lange zusammen, als dass ihr Schicksal je getrennt verliefe. wer hier aber der Gütigere und Weisere von Beiden ist, bleibt mitunter eine Frage.

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